Die Zeit, die wir uns nehmen.
10. Mai 2025
In letzter Zeit kreisen meine Gedanken oft um das Thema Abschied – um jene stillen, kaum benennbaren Gefühle, die sich in die Sprache nicht einfügen wollen. Verlust kommt nicht immer wie ein Sturm. Manchmal schleicht er sich in den Alltag, leise und unbemerkt, wie ein Schatten, der in den gewohnten Ecken ruht.
Vor fünfzehn Jahren verlor ich meinen Großvater. Ich war ihm sehr nahe, seine liebste Enkelin. Doch aus Rücksicht – oder vielleicht aus einer Art Schutz – verschwieg mir die Familie seine Diagnose: Speiseröhrenkrebs im Endstadium. Er entschied sich gegen die Chemotherapie und verbrachte seine letzten Tage weit entfernt – bei meiner Tante und Großmutter in einer anderen Stadt. Ich besuchte ihn nur ein einziges Mal vor seinem Tod. Er war schmal geworden, fast durchscheinend – und doch blieb sein Herz genauso weit und stark wie früher. Nach diesem Besuch schrieb er mir einen Brief. Darin stand, wie sehr er die Zeit vermisse, als wir gemeinsam am See saßen und Fische fütterten. Für mich war er immer wie ein großer Baum – ruhig, schützend, voller Leben.
Bis heute trage ich die Trauer, ihn nicht öfter begleitet zu haben. Vielleicht ist das der Grund, warum ich heute bewusster lebe, jede Umarmung meiner Familie tiefer spüre und meine Liebe nicht nur in Worten, sondern auch in kleinen Gesten ausdrücken will.
Drei Jahre ist es her, dass auch meine Großmutter ging – genau in dem Moment, als ich in den Niederlanden an Covid erkrankte. Körperlich und seelisch war es eine schwere Zeit. Doch Musik – und die Nähe von Freunden – halfen mir, wieder Schritte zu machen, auch wenn sie klein waren. Im selben Jahr nahm sich ein sehr guter Freund aus meiner Universitätszeit das Leben. Er war ein sanfter, aufmerksamer Mensch, dessen Lächeln Wärme trug. Die Nachricht traf mich wie ein kalter Wind, unerwartet, tief. Seitdem denke ich oft über seelische Gesundheit nach – über das, was gesehen wird, und das, was verborgen bleibt. Ich begann, mich intensiver mit der Rolle von Musik in der Palliativpflege zu beschäftigen. Ich glaube, Musik kann das ausdrücken, wozu Worte nicht mehr fähig sind – kann ein Raum sein, in dem man sich selbst wiederfindet.
In alldem finde ich Ruhe – und eine stille Form von Heilung. Ich habe gelernt: Man muss nicht immer stark sein. Aber ehrlich. Mein Körper wird langsam wieder kraftvoller. Kürzlich sprach ich mit einem Freund über den Verlust geliebter Menschen – und wie eine Art Mentalität, die es uns ermöglicht, weiter voranzukommen. Dieses Gespräch hallte lange in mir nach. Es erinnerte mich daran, warum ich Musik mache – und wie ich mit meiner Musik das Leben selbst berühren möchte.
Ich versuche nicht, in Trauer zu versinken, sondern das Licht weiterzugeben, das ich selbst erfahren habe. Kürzlich habe ich ein Freiwilligenprojekt im Kinderspital Zürich entdeckt – ein Ort, an dem kranken Kindern Zeit, Nähe und ein offenes Ohr geschenkt wird. Ich hoffe, im kommenden Sommer dabei mitwirken zu können und im nächsten Nefelibata-Konzert eine Verbindung zu ihnen herzustellen.
Nicht nur, um etwas zu geben – sondern auch, um zu wachsen. Und vielleicht, um meine Musik noch ein bisschen wahrhaftiger werden zu lassen.
<Drift> (2025) für chromatische Harmonika und Ensemble.